Im Antlitz der Zeit

Zu den Porträts von Stefan Dieterich

Der Blick ist forschend, kommt ein klein wenig von unten, fordert heraus. Er ist kurz davor, sein Gegenüber zu erfassen, an dessen Stelle wir als Betrachter getreten sind und von dem uns unser Verstand sagt, dass es bei der Aufnahme eine Kamera gewesen sein muss. Doch so, wie diese lebendigen Büsten geradeaus blicken, kommt man leicht auf den Gedanken, sie wären damit beschäftigt, sich selbst in einem Spiegel zu erforschen, hinter dem wir uns unbemerkt verbergen. Was wir sehen, sind Gesichter der Jugend und der Reife, dargeboten in einer geradezu archaischen fotografischen Technik auf Glasplatten, die im unterschiedlichen Lichteinfall zu leben scheinen und sich an der Grenze zur Dreidimensionalität bewegen. Sie treten aus der Dunkelheit der durchgefärbten schwarzen Glasplatten hervor, körperlich und transparent zugleich. Gefasst sind sie in schweren Eisenrahmen, und die Verbindung von Glas und Metall verweist noch einmal explizit aber ohne nostalgische Attitüde auf das 19. Jahrhundert, in dem diese Materialien nicht nur in der Architektur, sondern auch für die Bildmedien ganz neue Möglichkeitsräume eröffneten.

Die Bildentstehung ließe sich als „ganzheitlich“ beschreiben, als einen kreativ-meditativen Akt, vollkommen autark gegenüber Codes und Datenmengen, Großlaboren und Industrie. Jede Aufnahme beginnt mit dem Zuschneiden der Glasplatte, setzt sich fort im Präparieren mit einer Mixtur aus Kollodium, Alkohol, Ether und Salzen, dem Sensibilisieren im Silbernitratbad, dem zeitnahen Belichten, Entwickeln und Fixieren und schließlich der Lackversiegelung, die als brillanter Schutz der Oberfläche dient. Kein anderes Verfahren, abgesehen von der Daguerreotypie, verweist so unmittelbar auf die Frühzeit des Mediums Fotografie. Und selten feierte diese 1850 von Frederic Scott Archer und Gustave Le Gray entwickelte Methode der Bilderzeugung überzeugender eine Wiederauferstehung.

Bei Stefan Dieterich entrückt sie heutige Gesichter wie selbstverständlich in andere Epochen, ja scheint sie ganz den Dimensionen von Zeit und Raum zu entheben. Die Zeit jedoch kehrt unmittelbar in die Aufnahmen zurück, denn der Fotograf thematisiert Lebensalter, vor allem das Ende der Kindheit und den Zenit des Daseins. Kindheit wird gern als reine und unbeschwerte Zeit verklärt und Stefan Dieterich scheint auf den ersten Blick diese Vorstellungen noch durch die Wahl weichzeichnender Objektive zu unterstreichen. Doch spätestens die forschende Neugierde, die ungebändigt in den Gesichtern aufflackert, paart sich nun mit einem erwachenden Intellekt und zieht ein neues Bewusstsein nach sich, das den Mädchen, die der Fotograf überwiegend als Modelle wählt, weil sie ihren männlichen Altersgenossen einen deutlichen Schritt voraus sind, in absehbarer Zeit auch eine neue Weltsicht bescheren wird.

Erwachsenen Männern dagegen entgeht nicht selten, dass sie älter werden. Ihre biologische Uhr tickt leiser als die der Frauen, und das verführt sie zur Annahme, die Zeit laufe für sie weniger unerbittlich. Doch auch für sie gilt gelegentlich: Blickt man in den Spiegel, dann sieht man sich selbst, betrachtet man Fotos, dann sieht man plötzlich einen alten Menschen. Die Spuren des Lebens sind als Furchen tief in die Oberflächen eingegraben und erst jetzt lässt sich mit Berechtigung von Gesichts-Zügen sprechen. Die Nassplatten-Bilder mit ihrem fahlen Licht steigern dabei noch die Extreme, hier die Weichheit der konturlosen Jugend, dort ein Antlitz, das an eine Totenmaske erinnern würde, wäre da nicht die Intensität des Blicks.

Die Galerie, die Stefan Dieterich mit seiner Serie geschaffen hat, ist eine sehr überlegt arrangierte. Die Jahre zwischen den Dargestellten trennen, die Reihung verbindet, die Perspektive und die notwendige Konzentration der Modelle bei den Langzeitbelichtungen vereinzelt, das Nebeneinander lädt wiederum zum Vergleich ein. Es ist eine Koexistenz ohne Interaktion, ein Jeder-für-sich in einer Gemeinschaft, die es in den Momenten, in denen die Aufnahmen entstanden, noch nicht gab.

Die Porträts zeigen verfahrensbedingt die Gesichter der Menschen spiegelverkehrt, was allen (außer den Dargestellten selbst) die Wiedererkennung zusätzlich erschwert und sie zu Typen anonymisiert. In der Jugend springt das Asymmetrische der Gesichter weniger ins Auge, erst wenn die Linien markanter werden, tritt sie deutlicher hervor. Dieterich unterstreicht dies noch durch die Wahl der Objektive. Bei den Jungen ist die gesamte Oberfläche der Gesichter soft entrückt, bei den Alten fokussiert er die Augenpartie. Und diese betonte Schärfe – die vor allem bei blauen Augen noch unwirklicher hervortritt, weil das Kollodiumverfahren für dieses Spektrum besonders empfindlich ist – erscheint, als wolle er ein kleines Duell zwischen Iris und Kameralinse provozieren. Doch die Blicke gehen haarscharf aneinander vorbei, verfehlen sich um Millimeter und werfen Modell und Betrachter auf sich selbst zurück.

Dr. Boris von Brauchitsch